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augmented storytelling

Netflix scheint sich zum produktivsten und innovativsten Storytelling-Anbieter in diesem Moment zu entwickeln. Als ich 2012 im Theatercamp erstmals über eine digital erweiterte Form des Storytellings, eine Dramaturgie 3.0, ein augmented storytelling, nachdachte, war für mich ein Twitter-Account des fiktiven Protagonisten Don Draper aus MAD MEN noch ein assoziatives Vorbild in welche Richtung sich eine Weiterentwicklung von Erzählungen bewegen könnte. Wer schreibt den Twitter-Account der fiktiven Person? Der Autor? Der Schauspieler? Das Marketing?

Netflix‘ Marketing hatte im Januar 2016 (als dieser post in seiner ersten Form entstand) eine Website parat, die die vierte Staffel HOUSE OF CARDS mit Amerikas Präsident der Herzen, Frank Underwood vorbereitet. Zeitgleich wurden in Amerika reale Wahlen an den Start gebracht, deren Entertainment-Aspekt je nach Blickwinkel zwischen Politsatire und Horror changierten. Zeitgleich haben die „Netflix-Erzähler“ eine Kampagne an den Start gebracht, die sämtliche Mittel moderner Kommunikation zum Einsatz brachte.

Frank Underwood 2016
Netflix Marketing Geniuses! License: All Rights Reserved.

Wir können Frank Underwood auf Facebook folgen, seine Instagram Alben teilen, ihn auf Twitter adden oder seine YouTube Kampagne anschauen – ganz so wie im realen amerikanischen Wahlkampf.

Die Figur ist aus der Fiktion herausgetreten. Quasi „Rimini Protokoll reversed“. Während wir im deutschen Stadttheater maximal viele Experten der Wirklichkeit auf der Bühne versammeln, maximale Echtheit versuchen zu beschwören, unsere Ästhetik in den Minimalismus bewegen, um maximal wenig Illusion zu erzeugen, die Theater zu Plattform der politischen Auseinandersetzung machen, um Relevanz zu erzeugen und unsere Subventionen „zu verdienen“, arbeitet das Business-orientierte Storytelling Amerikas exakt in die andere Richtung: Die totale Illusion. Als Spiegel der Perversionen einer Wirklichkeit voller Fakes und Machtspiele? Ein angereichertes Storytelling, das ebenso kritisch fragwürdige Realität hinterfragt, dabei auch lustvoll und sinnlich mit den Mitteln des Schauspielens, des Serienmediums und den sozialen Medien spielt.

So, let’s meet Frank Underwood. Or even better: let’s meet Claire Underwood… Marketing und Storytelling werden eins? Die Beziehungskrise am Ende von Season 3 setzt sich auf der Homepage um… Meine Neugier ist geweckt für die vierte Runde.

Claire not found
Update 7. November 2016, zwei Tage vor der amerikanischen Wahl Trump vs. Clinton

Nach einer amerikanischen Wahlsaison, die im aktuellen SPIEGEL als Plot einer Fernsehserie nacherzählt wurde und die an absurden Wendungen, Intrigen, Finten und Brutalität schwer zu überbieten war, sitzen wir gespannt auf der Kante unserer Sitze und beobachten, was morgen auf uns zukommen wird. Die Lust an der Fiktion einer unmoralischen, mordenden Politik ist bei mir zumindest mehr als gesättigt.

Und Netflix hat die nächste Erzählung zeitgeistiger Realitätsverarbeitung bereits hochgeladen: Designated Survivor. Ein vollkommen unerfahrener Familienvater übernimmt das weiße Haus.

Update 10. November 2016, seit gestern ist Donald Trump Präsident der U.S.A.

Dass Politik ein amüsantes Spiel sei, diesen Luxus einer gruseligen Erzählung vom Politikerehepaar, das über Leichen geht, werden wir uns auf lange Zeit nicht mehr leisten können.

Stattdessen beginne ich mich zu fragen, ob wir nicht etwas übersehen haben. Warum ist die Lieblingsserie einer ganzen Generation von einem brutalen Kampf ums Überleben geprägt? Abolutely not my cup of tea – aber dennoch wachrüttelnd und bemerkenswert: Welche Fiktionen sprechen die Menschen verschiedener Generationen weltweit an? Welche Erzählformate werden zum Hype? Und was sagt das über den Zustand einer Gesellschaft aus?

Update 1. September 2017

Season 5 von „House of Cards“ hat die wüsten Wendungen so übersteigert, hat die Manipulation von Algorithmen, russische Einflüsse und gehackte Computer soweit  getrieben, dass die Frage, ob wir Doku oder Entertainment gucken, nur noch von einem Mann wirklich flamboyant beantwortet werden konnte: Frank Underwood himself.

Kurz vor Halloween 2017 veröffentlichte die L.A. Times eine Kaskade zum Thema Horrorfilme als Spiegel der amerikanischen Befindlichkeit, darunter auch lesenswert ein Artikel über Kings Clown Pennywise in „IT“.

Update 28.11.2017
Die Geschichte hat eine neue Wendung genommen, die Anklagen des Machtmissbrauchs und des sexuellen Missbrauchs gegen Kevin Spacey öffnen eine weitere Dimension zwischen Kunstwerk und Persönlichkeit, Kunst und Moral, Macht und Missbrauch in der Kunst. To be updated.

3 Kommentare zu “augmented storytelling

  1. […] vor allem inhaltlich erträumten) Möglichkeiten von Theater und Internet, in der Suche nach einer „gesteigerten“ Erzählung, aber auch in dem Versuch klassische Erzählformen durch örtliche Verschiebung und ungewöhnliche […]

  2. Es geht sogar noch weiter, Kevin Spacey beim Weltwirtschaftsforum: Er beantortet alle Fragen als President of the United States

    http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/weltwirtschaftsforum-kevin-spacey-zieht-davos-in-seinen-bann-1.2831166

    • Was an der vierten Staffel so bemerkenswert war: Wie das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Spacey und Wright wieder hergestellt wurde, wie die Charakterstudien Ibsen-ähnlich in ruhigen klaren Bilder gezeichnet wurden und das Tempo sich gedrosselt hat. Eine gelungene Season! Und dann hat die Underwoods und uns alle die Wirklichkeit überholt! Donald Trumps Wahlkampf ist an dramatischen Pointen schwer zu überbieten. Wir werden in den nächsten zwei Wochen heftig was zu sehen bekommen… Stephen Greenblatts Analyse von „Richard III“ Anfang October 2016 in der New York Times seziert das Soziopathische in Führungspersönlichkeiten.

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