Blog Nachdenken

Götter und Monster

Der Hashtag #MeToo hat eine Industrie umgepflügt, und die Endausläufer des Phänomens, das mit Debatte viel zu schwach umschrieben ist, haben vielleicht das Potenzial zur Kulturrevolution ähnlicher Schlagkraft wie 1968. Macht/Machtmissbrauch ist kein Thema mehr, das verschämt hinter vorgehaltener Hand in Angst diskutiert werden muss.

Netflix und ich

Lange schon habe ich im Hinterkopf einen Lieblingsblogpost weiterzuschreiben: augmented storytelling hatte die innovative Kreativität und rasante Durchsetzung von Netflix zum Thema. Und Kevin Spacey als Titelhelden. Seitdem ist viel passiert. Ich hatte Netflix erstmals als exotisches neues Format auf einer Reise nach Los Angeles kennengelernt. In unserem Apartment in der Pacific Avenue, Venice, gab es neben Sonos und Pandora auch diesen exotischen Knopf auf der Fernbedienung.
Ich startete also dieses Netflix und sah die ersten Folgen von „House of Cards“. Allein die Idee, dass eine ganze Staffel sofort zur Verfügung steht, das war neu und faszinierend, Serien gucken wie Romane lesen. Shakespeare-geschult, wie wir Theatermenschen nun mal sind, war ich sofort fasziniert. Eine Serie wie eine historische Tragödie. Und wie ich im Blog beschrieb, waren die Spiegelungen zwischen Fiktion und Realität umso spannender. Shakespeare live?

Fiktion beschreibt Wirklichkeit. Wirklichkeit wird zur Fiktion.

Schließlich ist die Technik, durch Fiktion Wirklichkeit zu beschreiben, nicht neu. Die historischen Tragödien der Rosenkriege, aber auch die scheinbare zeitliche und örtliche Distanz Hamlets, waren gute V-Effekte, um der Realität perverser Machtmechanismen auf die Pelle zu rücken. Und dann wird auf einmal Trump Präsident und Spacey formuliert bei Stephen Colbert auch die Absurdität, wie die Realität die Story überholt auf pointierte und kühl-humorvolle Weise. Die Mechanik der Macht wird ironisch und spielerisch erzählt und der Missbrauch der Privilegien hat Methode; wir sind Mitwisser der unmoralischen Intrigen und fiebern mit dem monströsen Antihelden. Und dann wird er selber eingeholt. Der Schauspieler-Gott hat seine Leitungsposition, hat sein Charisma als Star genutzt, um sich scheinbar unantastbar wie eine Sau zu benehmen. Hat nicht nur Assistenten auf dem erhofften Weg nach oben, sondern Jugendliche weit jenseits der sexuellen Eigenentscheidungskraft befummelt, bedrängt und drangsaliert. Das alles unter dem Deckmantel seiner Macht, Jobs zu ermöglichen, Karrieren zu fördern oder zu beenden. Soweit so bekannt, bisher. Nun muss Robin Wright den Job übernehmen, um die Story im Kartenhaus abzuschließen in einer finalen Staffel – und, bei aller Verehrung für die schöne, disziplinierte, kluge und erfahrene Kollegin, muss auch sie sich die Frage gefallen lassen, was sie mitbekommen, was sie gewusst hat, wann und warum sie geschwiegen hat…

Ich bemerke an mir selber, dass ich den Anfang von „American Beauty“ mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination anschaue und denke: Aber es war doch alles schon offensichtlich. Und da gehen die großen Fragen dieses Augenblicks los. Wird ein Schauspieler besetzt, weil er Anteile zur Verfügung stellt, die dem Publikum einen Blick in den Abgrund ermöglichen? Weil wir Zusehenden gerne ins Dunkle schauen, obwohl wir uns in sicher strukturierten Leben aufhalten? Wird ein Schauspieler durch seine Rollen und unsere Bilder, die wir uns von ihm machen und wie wir ihn ansprechen und über ihn schreiben, geprägt? Heath Ledger spielte in seiner letzten Rolle in Nolans „The Dark Knight“ den Joker mit so furchteinflössender Leere im Blick, das man nicht anders kann als das Martyrium des Künstlers fürs Werk zu beschwören. Wie Kevin Spacey Mena Suvaris Figur, die Lolita Angela Hayes, anschaut, das erinnert bereits an den Reptilienblick Frank Underwoods. Schauen wir in Spaceys Rollenfach, blicken wir in den Abgrund modernster Schurkenstreiche, vom Kult „Die üblichen Verdächtigen“ über „Seven“ (in dem er Brad Pitt mit Gwyneth Paltrows Kopf in einem Postpaket dahin manipuliert, die siebte Todsünde selber zu vollstrecken) bis hin zum in diesem Kontext eindeutig-zweideutigen „Horrible Bosses“ – Monster überall. Wann haben wir jemals einen normalen, verliebten, fürsorglichen Kevin Spacey gesehen? Was war zuerst da? Das Monster oder unser Bild vom Monster? Und: Wie gehen wir damit um? Darf ich nun „House of Cards“ nicht mehr gucken, ohne dabei einem Triebtäter eine Platform zu eröffnen? Dürfen wir bestimmte Kunstwerke nur noch in ihrem Kontext wahrnehmen?

Das Ende der Unschuld?

Der unschuldige Blick, wann gab es den zuletzt? Waren Produktionsbedingungen jemals ein Faktor für den Konsum von Kunst? Der ganze Komplex um Leni Riefenstahl hat doch jedem denkenden Zuschauer bereits vor Jahrzehnten klar gemacht, dass Künstler und Werk nur schwer zu trennen sind. Doch was ziehen wir für Konsequenzen daraus? Wieviel wissen wir über den Umgang mit der Ressource Mensch in einer Produktionsstätte? Wieviel wollen wir wissen? Was hat die Produktion mit dem Produkt zu tun? Fragen, die noch nicht ansatzweise geklärt sind. Mir ist nur eines klar: Die brutalen Verbrechen eines Harvey Weinestein, die unfassbaren Erlebnisse um einen Dieter Wedel, die gilt es zuallererst strafrechtlich aufzuarbeiten und soweit möglich zu sühnen, lückenlos und transparent. Damit fängt es an.

Und ganz losgelöst von Gender und Sex: Wie oft stehen wir selber schweigend daneben, wenn Machtmißbrauch schleichend, kumpelhaft, heimlich, offen, dreist, übergriffig, althergebracht, traditionell praktiziert wird?

Auserzählt

Die Geschichte ist zu Ende, und am Ende war es Shakespeare: Geistererscheinungen und Kindheitserinnerungen manifestieren sich im Weißen Haus –  und die Macbeths werden mehrfach namentlich zitiert. Ein wenig holprig, aber ein gelungenes Thriller-Ende samt matriarchaler Utopie. Und ja, es wurde auch offensiv gefragt: „Was wusste sie?“ in der finalen Staffel von House of Cards.

Und wir?

Wie gehen wir im Theater mit Macht und Machtmissbrauch um? The comments are open for commentaries und Berichte. In David Mammuts „Oleanna“ mussten wir uns einer Variante der Debatte stellen, diskutierenswert.

3 Kommentare zu “Götter und Monster

  1. „Die Wissenschaftlerin Miranda Fricker hat am Beispiel von sexueller Belästigung gezeigt, welche Folgen es haben kann, wenn Missstände nicht benannt werden können. In den 1960er Jahren war der Begriff ’sexuelle Belästigung‘ in den USA noch nicht weit verbreitet, es existierte keine gesellschaftliche Übereinkunft darüber, was er beschreibt … Die Ohnmacht, die eine solche linguistische Lücke hinterlässt, ist immens … So bleiben Menschen sprach- und machtlos angesichts einer Ungerechtigkeit, die nicht in Worte gefasst werden kann, so dass ausreichend viele Menschen sie als Ungerechtigkeit begreifen. Damit bleibt ihre Realität unsichtbar für andere …

    Die Masse der Erfahrungen macht deutlich: Sie sind keine Einzelfälle und auch nicht der übermäßigen ‚Empfindlichkeit‘ Einzelner geschuldet, sondern Teil eines strukturellen Problems unserer Gesellschaft. Indem wir einen Missstand benennen, geben wir ihm einen Raum, machen ihn begreifbar. Erfahrungen bleiben nicht länger namenlos, unsagbar. Indem Einzelne die Erfahrungen anderer Einzelner bestätigen, in Kampagnen wie #aufschrei, #metoo, #SchauHin oder #metwo, verändert sich die Wahrnehmung der Gesellschaft. Etwas, das zuvor nur den Betroffenen sichtbar war, wird nun auch für Außenstehende sichtbar: Rassismus. Sexismus. Mitten im Alltag. Jeden Tag. Überall in Deutschland.“ – Kübra Gümüsay, Sprache und Sein
    https://kubragumusay.com
    http://eedenhamburg.de

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