Blog Kunst kommunizieren

Migrant*innen

Migration und Integration sind die großen Themen der letzten Jahre. Theater, als Seismografen gesellschaftlicher Strömungen, identifizierten das Thema frühzeitig. Denn: Demografie definiert Publikum? Kunst reflektiert Gesellschaft? Gesellschaft fordert Kunst heraus? Ist das der Grund für den Boom der Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Zuwanderung“?

Wollen wir tatsächlich, dass das Theater ein Ort wird, indem endlich lautstark gesprochen, gelacht und gehustet wird – wie der Migrationsforscher Mark Terkessidis in „Interkultur“ die Kulturinstitutionen auffordert? Ungeachtet des Phänomens, dass auch gegenwärtig bereits an besonders ergeifenden oder psycholgisch herausfordernden Momenten im Theater (wie z.B. einem Augenblick der Stille in der Oper) erstaunlich ausdauernd gehustet, geknistert und auf dem Sitz herumgerutscht wird, wäre das doch ein schönes Ziel: Theater als Ort des Lachens, Sprechens und Hustens. Ein Ort der Lebendigkeit. Des lebendigen, intensiven Austauschs.

Natürlich geht es auch um Audience Development, die Arbeit mit dem Publikum der Zukunft, und darum, dass das Thema „Wie wollen wir zusammenleben?“ oder „Wie gehen wir mit den großen Ungerechtigkeiten der Welt um?“ immer ein entscheidendes Motiv künstlerischer Auseinandersetzung ist – aber ich glaube, die Lust des Theaters am Thema Migration hat auch noch einen anderen Anker: Die Lebensform der Theatermacher selber hat nicht selten etwas „Nomadisches“. Wohnungen werden auf Zeit eingerichtet und der Wechsel des Engagements und somit des Standortes und Blickwinkels ist Realität. Für kurze Augenblicke weniger Spielzeiten kommen Künstler zusammen und sind sich nah, eh das Engagement einen neuen Ort definiert. Sprechtheater interessiert sich für „das Fremde“ von jeher.

Salman Rushdie, so schreibt Catrin Lorch in der SZ am 4./ 5. Juni 2011, formuliere es in einer Lesung auf der Biennale in Venedig folgendermaßen: Die Kunst und die Künstler seien prinzipiell staatenlos und so die Avantgarde der Gegenwart. Wer nicht verwurzelt sei, müsse sich auf neue Weise erfinden, „eine andere Person sein – nennt ihn glücklich oder verflucht, er ist das Massenphänomen unserer Zeit.“ Lorch kondensiert, die Welt der Kunst rotiere unter den Füßen der Wandernden und wo man nicht auf der Stelle trete, sei diese Reibung purer Energiegewinn.

Welchen Aspekten werden wir, die Theater, dennoch nur unzulänglich gerecht? Das bleibt unsere Aufgabe der Zukunft.

4 Kommentare zu “Migrant*innen

  1. „Wenn eine Ihrer Muttersprachen Englisch, Französisch oder Spanisch ist und Sie diese Ihrem deutschen Kind nicht beibringen, müssen Sie sich auf Unverständnis und Kritik gefasst machen … Diese Sprachen – Prestigesprachen – gelten als wichtig für eine berufliche Laufbahn … Wenn ein deutsches Kind als zweite oder dritte Sprache Rumänisch, Polnisch, Türkisch, Kurdisch, Bosnisch, Arabisch … beherrscht, gilt das im gleichen Maße als Ausweis von herausragenden Fähigkeiten? Bringt es ihm Vorteile und Anerkennung? …
    Wie es wohl gewesen wäre, wenn Menschen diese Mehrsprachigkeit als das erkannt hätten, was sie ist: ein kostbarer Schatz, eine Bereicherung der Gesellschaft? …
    Was geschieht mit uns, wenn wir eine Sprache, die die Facetten unseres Seins hörbar und fühlbar machen kann, nicht mehr sprechen dürfen?“- Kübra Gümüsay, Sprache und Sein
    https://kubragumusay.com
    http://eedenhamburg.de

  2. Agnieszka Harmanci

    „something is rotten in the state of denmark“ – Migrationsdebatte
    Mit neun ist Helena mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Aus dem Osten, aus Russland, aus dem Kasachstan, aus einem kleinen Dorf in den Westen, nach Deutschland, in eine Großstadt, nach Hamburg. Ihre Vorfahren waren Deutsche, Russlanddeutsche. Sie ist zur Schule gegangen, fleißig gelernt, gute Noten nach Hause gebracht. Jetzt studiert sie Slawistik und Germanistik an der Hamburger Universität und ist neunzehn. Systemisch betrachtet ist sie voll integriert bis auf das Gefühl, dass ihr tagtäglich sagt, dass sie nie so gut werden kann, wie ihre deutschen Studienkollegen. Warum? „Na ja, ich bin hier nicht geboren.“ – sagt sie –
    „Ich kann mich nicht so gut ausdrucken, wie meine deutschen Studienkollege“. „Merkwürdig“ – antworte ich drauf – „Du hast grad ein sehr gutes Referat gehalten“.
    Wo liegt das Problem?

    Ein anderes Mädchen, Kind einer türkischen Gastarbeiterfamilie, in Deutschland geboren, grad 23, Medizinstudentin. Hübsch und stylisch gekleidet, plietsch und höfflich, in sich ruhend, erzählt mir begeistert von ihren Praktikum in New York, vor allem von ihrem Zugehörigkeitsgefühl nach zwei Monaten Aufenthalt. Hier hat niemand „skeptisch zugehört“, wenn mit Akzent über die Patienten gesprochen wurde. Das Fachliche zählte.
    Nach der Rückkehr macht sie sich öfters Gedanken, warum sich die deutschen Professoren oft nicht bemühen, ihren Namen richtig zu lernen. Er ist doch nicht so kompliziert.“ – Sie will sich jetzt im Bereich Neurologie spezialisieren. Auf die Frage, bist du Aysegül, Deutsche? – antwortet sie: „Nein. Ich bin Ausländerin, Türkin in der Dritten Generation.“ – „Du hast aber einen deutschen Pass und bist hier geboren“ – sag ich etwas erstaunt. Dann denkt sie kurz nach und sagt: „Es ist nicht so, dass ich so fühle, es kommt von draußen, von der Umwelt“.
    Wo liegt also das Problem?

    In der verkürzten Debatte über Aussiedler, Umsiedler, Einwanderer, Zuwanderer, Emigranten, Migranten? In den falsch interpretierten Zahlen? In den geschlossenen Kreisen? In den Zugängen, Eingängen, Ausgängen? In der Angst? In der tagtäglichen Rücksichtslosigkeit des Menschen? In der Ignoranz? In einem selbst?

    „Gebrochenes Wort ist nicht immer gebrochener Gedanke“ – sagte Saide Sesin-Martinez, eine der Theaterbesucherinnen nach der ersten Vorstellung, die durch das Programm Thalia Migration heißt Sie Willkommen begleitet war: „Nathan der Weise“ im Thalia Theater Hamburg. Es leben in Deutschland viele Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Daher formulieren sie ihre Gedanken mit Akzent ihrer Herkunft und im Rhythmus ihrer Gefühle.

    Saide ist in Mexiko als Tochter einer Spanierin und eines Arabers geboren und lernte ihren deutschen Mann in New York kennen. Jetzt lebt sie in Hamburg als zweifache Mutter und Coach. Sie beschreibt Migration als „Verlust von Heimat“. Es ist wie „das Umtopfen einer Blume: es dauert, bis man wieder Fuß fasst“.

    Thalia Migration – anders konnte man das doch nicht nennen – denkt Theater als Ort der interkulturellen Begegnung.
    Gedankliche Mobilität eines renommierten Theaters auf der Suche nach Verständigung zwischen den (fast nur) deutschen Theaterfachleuten und dem neuen Publikum der Zukunft, den Migranten?

    Allein die Berührungsangst mit dem Begriff legt den Finger auf die Wunde: Migranten.

    Bin ich Migrantin? Bleibe ich hier für immer oder gehe ich irgendwann zurück? Ich weiß es nicht… Zurzeit ist Hamburg mein Zuhause und Thalia Migration macht für mich Sinn.

    Auf bald im Theater… Ich bleibe neugierig.

    Agnieszka Harmanci war 2010-12 Mitarbeiterin Marketing & Kommunikation und erarbeitete mit JS das Publikumsentwicklungsprogramm Thalia Migration, Vorläufer für das spätere „Thalia International“.

    • Liebe Agnieszka,

      sehr gute Ideen hast, du Wanderin, gute Arbeit leistest und schöne Worte schreibst. Weißt du, dass Journalismus Kunst ist? Nicht jede, die schreibt, kann etwas erzählen oder bewegen. Mein Kompliment.

      Ich wünsche dir noch viel Kraft und Geduld, Kreativität und Ausdauer für die Umsetzung deiner Träume. Möge dein Egangement viel Früchte tragen und sich weiter dehnen.

      Saide

  3. Vorbild Theater
    Die Parallele zwischen Theatermachern und Migranten ist vielleicht genau der Punkt, auf den es sich zu konzentrieren gilt. Ich glaube, dass ein zentrales Problem rund um diesen Themenkomplex ist, dass Migration stets als Defizit wahrgenommen bzw. damit in Verbindung gebracht wird. Es herrscht im allgemeinen die Vorstellung davon, dass Menschen auswandern, weil es ihnen schlecht geht. Zweifellos liegt der Ursprung des Nomadentums darin, dass man gezwungen war weiter zu ziehen um neues Weideland für die Tiere zu finden. Das Wandern, Weiterziehen oder die „Migration“ hat jedoch immer eine weitere Komponente: Die, des Entwicklungsdrangs, der Neugierde, die in der Psychologie als „need for cognition“ bezeichnet wird. Dieser Drang, dieses unbedingte Verlangen danach sich weiter entwickeln zu wollen ist Triebfeder für die bisherige menschliche Entwicklung. Wenn es uns nur um die reine Erhaltung der Art gegangen wäre, warum dann all die Kraft und Energie in Forschung und Kunst legen?
    Eingewanderte Menschen profitieren nicht nur von ihrem neuen Zuhause, sondern sie bringen immer auch ein Potenzial mit, neue Impulse, die zu fördern und zu nutzen, von Vorteil sein kann. Eine Gesellschaft definiert sich für mich immer auch darüber, wie sehr sie in der Lage ist neue Aspekte, neue, fremde Menschen aufzunehmen, ihnen Raum zu gewähren und Widersprüche und Ambivalenz zu akzeptieren und Energie aus ihnen zu schöpfen.
    All das passiert im Theater mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit. Ein Regisseur (Schauspieler, Dramaturg…) wechselt an ein neues Haus um sich weiter zu entwickeln, vielleicht auch weil er vor die Tür gesetzt wurde. In jedem Fall ist das Haus, das ihn aufnimmt, daran interessiert von seinem seinem Handwerk, seiner Kunst, seinen Ideen zu profitieren.
    In dieser Hinsicht kann man sich ein Beispiel am Theater nehmen. Vom Theater jedoch zu erwarten, einen Schlüsselrolle bei der „Integration“ (ich halte diesen Begriff schon für zweifelhaft) zu übernehmen ist sinnlos. Dies liegt vor allem nicht im Aufgabenbereich eines Theaters, wenn es so etwas überhaupt gibt. Für mich greift ein gutes Theater diese Themen sowieso auf, da Theater eben Orte sind, an denen Migration und stetige Veränderung dazugehören und vor allem aber positiv konnotiert sind. Und eben darauf kommt es an: Auf den Blickwinkel, von dem aus man Migration betrachtet. Es liegt an uns zu entscheiden ob wir Chancen oder Defizite sehen.

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