Wann immer wir von Orwells großer Dystopie über die totale Überwachung hören, haben wir ein inneres Bild, ein Vorgefühl, ein vorgefertigtes Bild, eine virtuelle Erinnerung, diese spezielle Sensation in unserem Gehirn, priming würde Daniel Kahnemann das wohl nennen; wir glauben, dass wir etwas schon kennen, tief ist ein vorgeprägtes Bild in uns bereits kulturell verankert – ein Phänomen, das in seiner einfachsten Form die Rezeption von Klassikern immer in Gefahr bringt, die letzte oder stärkste Erinnerung mit dem tatsächlichen Werk zu verwechseln. Vergleichbar auch mit dem Unterschied von unserem inneren Bild von Venedig oder New York, das durch viele virtuelle, kulturelle Übergaben bereits schon so in uns tradiert wurde, dass der Kontakt mit dem „echten“ Ort einem Schock gleichkommt. Diesen Schock gilt es 2018 auch im Fabel-haften Klassiker „1984“ zu finden. Wir alle denken „Na klar, Big Brother is watching you“, NSA, Fake News, das ist der Text der Stunde! Nur: Liest man in den Text hinein, findet sich das natürlich nicht in eindeutiger Vergleichbarkeit.
Textbeschwörung und Zeitreisen
„Orwell begann mit der Verfassung des Buches im Jahr 1946 während seines Aufenthaltes auf der Insel Jura vor der Küste Schottlands und stellte es Ende 1948 fertig. Der Titel enthält den Zahlendreher des Jahres 1948 zu 1984 als Anspielung auf eine zwar damals noch fern erscheinende, aber (ähnlich wie Orwells vorangegangener Roman Farm der Tiere) doch eng mit der damaligen Gegenwart verknüpfte Zukunft. Die Erstausgabe des Buches kam in London am 8. Juni 1949 in den Verkauf“, verrät uns die große Schwester Wikipedia. Der Schrecken des Zweiten Weltkriegs und Orwells Irritationen über die Sowjetischen Methoden, einen Staat zu organisieren, sind atmosphärisch greifbar, sobald man in den Roman und die Adaptionen einsteigt. Eine graue, uniforme Masse erscheint nicht erst in der Verfilmung von 1984 mit John Hurt sofort vor unserem inneren Auge.
Der große Bruder sieht Dich
Beim ersten Lesen einer Neuübersetzung war der belebende Schock umso größer: „Der große Bruder sieht Dich“ übersetzt Michael Walter. Wie tröstlich! Da ist jemand, der ist für Dich da. Der passt auf Dich auf. Ist es in Zeiten des allgegenwärtigen Terrors nicht erleichternd, wenn ein starker Vater die Kontrolle übernimmt? Und große Mauern aufbaut (die dann Mexiko bezahlt), weil die kletternden und schwimmenden Fremden gefährlich sind, uns morden, unseren Wohlstand oder gewaltsamen Sex haben wollen? Braucht es da nicht einen mächtigen, heterosexuellen Mann über 50, der uns sagt, wo es langgeht? Und was wäre, wenn es davon nun immer mehr gibt, die sich auch prächtig verstehen, good old boys. Schon 2001 wurde in den Folgejahren nach dem Angriff auf das World Trade Center das Recht auf Privatheit zugunsten von Sicherheit runtergestuft, die Beschneidung gewisser demokratischer Grundregeln hatte in Amerika den schönen Namen „Patriot Act“ und Herr Erdogan hat uns in der Türkei gerade eindrucksvoll gezeigt, wie Angst Macht generiert. Soweit alles sichtbar. Populismus und rechtes Denken ist global auf dem Vormarsch.
Wir, in unserer Bubble, im Theater, finden das gruselig. Natürlich! Und dennoch sagt Orwell mit Michael Walter „Der große Bruder sieht Dich“ – und das hat entgegen unserer geteilten virtuellen Erinnerung vom Stoff positive Konnotationen. Irritierend! Diese Irritationen interessieren mich. Ein Puzzle mit dem Publikum zu eröffnen aus Text und Bildern in unseren Köpfen – ohne die auf der Hand liegenden Übersetzungen ins Jetzt plakativ mitzuliefern.
Privatsphäre
Beobachtet man als Gadget-Abhängiger und Apple-Jünger die WWDC17, so kann man sich des Eindruck nicht erwehren, dass wir heute zwar alle um unsere „Privacy“ fürchten, dass es allgemeingültiger Common Sense und auch gerade in unserer Bubble ein Thema für Theaterempörung ist (vgl. die Begeisterung für Eggers Roman The Circle oder die Privatsache-Konferenz und das zugehörige Projekt mit Washington im Schauspielhaus Graz), weil NSA, Google, das gesamte Internet voller Datenklau und Überwachung böse und gefährlich sind; dass mit dem Verschwinden der Geheimnisse, die Identität angegriffen wird und in Gefahr gerät etc.
Doch wie erklären wir uns nach Alexa von Amazon nun den HomePod aus Cupertino? Natürlich wird uns unfehlbare Encryption versprochen, die Privatsphäre scheint 100% gesichert, doch: Wer jemals versucht hat, per Siri eine SMS zu senden, weiss, dass Siri immer Internet braucht, um mit dem Großen Rechner in Palo Alto Kontakt aufzunehmen. Und nun: Ein hochkomplexes Sprachverarbeitungsprogramm versteht, was wir sagen und erfüllt unsere Wünsche? Die Technik entwächst gerade mal den Kinderschuhen, doch Apples Vision ist formuliert: Mensch und Maschine sollen enger zusammenwachsen, intuitiver miteinander kommunizieren können.
Bedeutet: 2017 holen wir uns den Teleschirm freudig selber ins Haus.
Der große Bruder wird gefürchtet – aber die Sorge um Privatsphäre hört auf, wenn es Spaß macht oder bequem ist…? Widersprüche, die diskutierenswert sind.
Séance
Die skizzierten Elemente sollen miteinander den Text in Schwingung versetzen – für eine große Textbeschwörung mit den Mitteln der Popkultur, für eine Wiederbegegnung und irritierende Séance mit Orwells Vision. 1948 trifft 2018, 1984 ist die Brücke: Populismus wählt die großen Brüder. Privatheit ist ein Luxus, den man wollen muss, wie Demokratie. Scheinbar fest verankert, von Generationen erkämpft und abgesichert … – to be continued.
Die Proben in Kiel starten
23. Januar 2018 – Leseprobe und Konzeption. Wir berichten von allen Plänen und ästhetischen Setzungen. Von der Arbeit mit dem Text Orwells, vom Nachdenken, wie wir den Großen Bruder als Allmächtigen Algorithmus sichtbar machen können, wie wir uns vom Zeigen der Potentaten verabschiedet und Orwells Sprache für ein Puzzle in unserem Kopf ins Zentrum gerückt haben, wie wir die echten 80er erst stilprägend gesetzt und dann wieder verworfen haben – nur noch die Musikebene spielt mit emotionalen Erinnerungen an die Hits von 1984 – Eyes without a face (Billy Idol), Relax (Frankie goes to Hollywood), Radio GaGa (Queen), Self Control (Laura Branaghan UND Raff), Wouldn’t it be good to be in your shoes (Nik Kershaw), Wake me up before you go-go (Wham!) aber auch Careless Whisper (George Michael) sowie Sexcrime (Eurythmics) … Und wie sinnvoll und schlüssig der Text heute ist, wenn man ihn in unserer Vorstellung zum Klingen bringt.
Wie schnell eine Gesellschaft alles, wofür sie jahrelang gekämpft hat, wieder verlieren kann. Und wie stark eine Dystopie so etwas erzählt. Wie sehr Thriller und Science Fiction heute die Hinterfragung der conditio humana übernommen haben, siehe HBOs „Westworld“ oder beide Teile der (in den 80ern erstmals verfilmten) „Blade Runner“-Geschichte. Der Erfolg von Serien wie „Black Mirror“, die Gruselgeschichten aus der schönen neuen digitalen Welt, oder „The Handmaid’s Tale“, die Margret Atwood’s Schocker über eine antifeministische Revolution in den Staaten, packend in Szene setzen, macht spürbar, wie nah an der Oberfläche unsere Sorge um die Demokratie mittlerweile ist. In unserer Echokammer…
3.2.2018 – Woche zwei: wir arbeiten uns voran. Teil I Winston. Teil II Julia. Über die Figuren erarbeiten wir uns die Struktur der Geschichte. Ich habe den Focus der Story mehrfach auktorial auf die jeweilig zentrale Figur verschoben. Die Arbeit an den Figuren, an den Beziehungen und an der Struktur der Gesellschaft in einer gar nicht so fernen Zukunft macht Spaß und fordert heraus. Warum darf keine Form von Liebe und Intimität entstehen? Was passiert mit Menschen, die täglich mit Sprache arbeiten, aber sich nur zensiert in Gedanken und schreiben ausdrücken dürfen. Wir entdecken: Die gedankliche Fertigkeit zum Widerstand entsteht in diesen Informations(ver)Arbeitern durch die Jobs, die zur Unterwerfung erfunden sind. Die Struktur unserer Fassung, Zeitsprünge, innere Monologe und Spielszenen als szenisches Puzzle, fordert immer wieder neue Ansätze und das Erforschen von sprecherischen und inneren, emotionalen Haltungen.
9.2.2019 – dritte Probenwoche: Beziehungen, Dialog, Monolog und auktoriale Strukturen. Nur noch zwei Szenen nicht angearbeitet. Der stärkste Eindruck: Wie wohltuend, an der menschlichen Beziehung zwischen Winston und Julia zu arbeiten. Durchatmen in dem düsteren Stoff um Überwachung, Bespitzelung, Manipulation und Verrat. Wieweit sind die menschlichen Beziehungen in einem perversen System bereits beschädigt? Ist an einem Ort der Angst überhaupt Vertrauen möglich? Wodurch wächst Zutrauen und wie können wir das in drei kurzen Szenen als Prozess mit klaren Entwicklungsschritten und Drehpunkten in den emotionalen Bewegungen anlegen, so dass für den späteren Zuschauer immer wieder neue Aspekte der sich entwickelnden Beziehung zu entdecken sind. Immer wieder auch zurück an den Text Orwells. Die flächigen Epen, die er mit dunkler Schraffur geschaffen hat, nutzen, um den atmosphärischen Umraum plastisch zu machen. Die Welt, in der sich die Geschichte bewegt, gedanklich in Schwingung zu bringen mit unserer Realität. Das Private und das Politische miteinander zu verweben. Chorische Aspekte weit zu treiben. Die Massen und die Massenhypnose einer düsteren Zeit spürbar machen.
16.2.19 – vierte Probenwoche: Dichter. Alles wird dichter. Einmal durch alle Szenen, angelegt, teilweise vertiefend angeschaut. Der letzte Akt, der dritte Teil des Buches brauchte all unsere Ressourcen. Folter und Gedankenkontrolle, wie erzählen wir das? Schon während der Arbeit an der Fassung trieb mich das um; ein ganzer Akt, der nur aus Grausamkeit besteht, aus der dezidierten Schilderung, wie eine durchgedrehte Diktatur ohne Ausweg funktioniert. Körperliche und psychologische Qual versuchte ich sprachlich zu kondensieren, um eine erste Fährte in die Dunkelheit zu legen. Wie erzeugt sich die Beklemmung und die Welle der Schocks in uns, den Zuschauern? Wie weit muss der Spieler einsteigen, wieviel bereitstellen? Und wann übernimmt er zuviel an emotionaler Arbeit und entlässt uns damit aus dem empathischen Miterleben. Für mich funktioniert der Einstieg in die Gefühle über die Sprache… Außerdem ein paar Tage auf der Bühne in Originaldimension aber noch nicht im originalen Raum, gute Erfahrung. Und erste musikalische Überprüfungen mit Matthias Schubert. Alles wird dichter.
25.2.2018 – noch eine Woche bis zur Premiere. Die erste technische Einrichtung beginnt das Bild zu komplettieren. Und wie jedes Mal: Die „Designwoche“ mit Beleuchtungsproben, ersten Umsetzungen im Originalraum, Anpassungen von Video und Sound, ist herausfordernd für alle Beteiligten. Die SchauspielerInnen müssen mit uns zusammen aushalten, dass ein technischer Vorgang in den Vordergrund rückt. Mir macht diese Phase grundsätzlich Spaß, aber sie strengt auch an. Jetzt wird endgültig sichtbar, was sich von der Vision, der Konzeption, die nun viele Monate gleichzeitig mit der Arbeit an der Textfassung begonnen hatte, in die Realität umsetzt. Zusätzliche Schichten der Erzählungen werden aufgetragen und im besten Fall strukturiert sich der Abend vor unseren Augen im Einklang mit spielerischen, psychologischen Impulsen. Noch fehlt das endgültige Zusammenkommen von Sound, Licht, Video, Maske, Kostüm und Spiel. Und kurze Momente des Innehaltens und vertieften Arbeitens an Szenen, Übergängen und emotionalen Verläufen sind wichtige Ankerpunkte unserer Arbeit. Wir bekommen ein Gefühl dafür, wie sich die Geschichte erzählen wird. Wie das Zusammenwirken aus epischem Material und Szene ineinandergreift… Kommende Woche ist es soweit: KB (Kostüm & Bühne heißt es in Kiel statt des mir sonst bekannten AmA, Alles mit Allem), HP und GP, letztere beiden Proben sind öffentlich: am 1. um 19 Uhr und am 3. um 11 Uhr. Besucht uns in den Endproben in Kiel!
3.3.19 – sechste und letzte Woche: fast fertig. Eine ereignisreiche Woche liegt hinter uns. Mit vereinten Kräften haben wir diese Mammutaufgabe gestemmt, mediale Einheiten (Sound, Videos, Musik) mit Licht und Ton trainiert und die Collage immer feiner zusammenwachsen lassen. Zwei Durchläufe mit Publikum haben uns Eindrücke gespiegelt, wie die Rezeption funktionieren wird, Rückschlüsse über Tempo und Taktung zugelassen. Das Puzzle, das Theaterrätsel, das wir mit verschiedenen Zeitebenen aus dem Material von 1948 über unsere Welt 2018 mit Pop aus 1984 gewoben haben, ist bereit für die Premiere. Die Vorfreude steigt!
Erste visuelle Eindrücke auch schon bei Frank Albert, in der Hauptprobe geschossen. Und der Abschluss des Projektes ist auf der Review-Seite dokumentiert.
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