von Ulrike Syha
Uraufführung: 21.06.2002
Staatstheater Kassel im Hotel Reiss
Dramaturgie: Ralf Fiedler
Hotel Paranoia: Eine lange Theaternacht für kurze Texte in Kassel
Der geschwungene Schriftzug über dem Eingang stammt wohl noch aus den fünfziger Jahren. Die Zimmer mit Fenster zum Kasseler Bahnhof wirken, als hätten sich hier im Hotel Reiss schon vor fünfzig Jahren Gäste aus dem Bett gequält, um den nächsten Zug nicht zu verpassen. Nähert man sich dem Hotel jetzt an diesem Abend, da das Hotel zwischenzeitlich zum Theater wird, blinken die Fenster einladend.
[…]
Auffällig ist, dass das Kasseler Hotel-Strandgut paranoid wirkt, sich verfolgt, umstellt oder bedrängt fühlt. Hugo etwa, Ulrike Syhas Handlungsreisender in Teppichwaren, wird vom Personal und von weiblichen Gästen permanent als Popstar erkannt, was den armen Mann derart überfordert, dass er nur mit seiner Frau daheim telephonieren will. Er ist kurz davor, aus dem Hotelfenster zu springen. Dann allerdings ist das Paranoia-Dramolet auch schon wieder vorbei und lässt die Zuschauer mit der Frage zurück:
Wem gebührte in dieser Nacht die Regie-Krone? Jochen Strauch, der für Ulrike Syhas „Ich bin keine Band“ eine exzellente Sabine Waibel als hysterierte Fan-Frau einsetzt und im kleinen Raum inszeniert!
Oder geht die Krone an den Oberspielleiter des Abends, der es erlaubt, dass man einer Zimmer-Inszenierung beiwohnt, während in den Nachbarzimmern getobt und geheult wird und irgendwo auf dem Gang der Zimmerservice laut klopft? Es ist wie im richtigen Hotelleben, in dem irgendwann auch ein Politiker auf Wahlkampftour absteigt, akkurat seine Schuhe am Bett ausrichtet und die Zuschauer mit den Worten begrüßt, er sei jetzt zwar viel in Hotels unterwegs, betrüge seine Frau aber nie, weil er sich das bei seinem Wahlkreis nicht leisten könne. John von Düffels „Hallo, Sie“ bedient allerdings nur genau jenes Bild des Profi-Politikers, das jeder sowieso zu kennen meint… während Lukas Bärfuss mit „Chambre de Passage“ dann doch lieber in heimatlichen Gefilden bleibt. Sein Monolog eines alten Schriftstellers erinnert an Thomas Bernhards Kunstdiktatoren mit ihren Zernichtungstiraden. Andreas Haase spricht den Monolog und macht großes Theater daraus, wenn er wehmühtig aus dem Fenster seines Einzelzimmer hinüber zum Bahnhof blickt, als wolle auch der alte Schriftsteller noch einmal in die Welt aufbrechen. Da war es dann allerdings schon gegen zwei Uhr nachts und man durfte annehmen, auch im Thomas Bernhard-Zimmer mit der Nummer 125 würde bald das Licht ausgehen. Wer zu diesem Zeitpunkt noch was zum Ausklang suchte, konnte sich in Rebekka Kricheldorfs Zimmer 119 mit den wispernden Stimmen setzen und sich fragen, ob auch aus dieser Stimmen- und Klanginstallation im Einzelzimmer dereinst ein Stück für größere Theaterräume werden kann.
Jürgen Berger, Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 24.6.2002
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