Ganz gleich, ob „Besucher“, „Publikum“, „Kulturnutzer“ oder gar „Kunden“ – die Kunst braucht ihre Rezipienten. Wer aber sind die Kulturnutzer von heute, wie lassen sich neue Besuchergruppen erschließen und welche Beteiligungsformen sind, angesichts einer verschwimmenden Grenze zwischen Produktion und Rezeption, für das Kulturpublikum denkbar?
Unter dem Titel Zukunft Publikum. Neue Beteiligungsformen und interaktive Kulturwahrnehmung stellte sich der Fachverband Kulturmanagement e.V. auf seiner 6. Jahrestagung (12.-14. Januar 2012 in Lüneburg) die Aufgabe, gesellschaftliche Entwicklungen in diesem Bereich aufzuzeigen sowie mögliche Strategien und Instrumente zu diskutieren, mit denen kulturelles Schaffen zukunftsgerichtet gestaltet werden kann. Gleichzeitig sollten die übergeordneten Paradigmen der aktuellen Kulturnutzerforschung beleuchtet werden. Ebenso wurde nach den Konsequenzen gefragt, die entsprechende Ergebnisse der Kulturnutzerforschung a. für die kulturelle Praxis und b. in politischer Dimension haben.
Jede Kulturinstitution stehe heute vor der Aufgabe, Stammpublikum zu halten und gleichzeitig neues Publikum zu gewinnen. Das wachsende Interesse an Audience Development werde, so Birgit Mandel von der Universität Hildesheim, durch die Internationalisierung der Kulturlandschaft, die Konkurrenz durch das Internet, das Überangebot an Kultur im Vergleich zur stagnierenden Nachfrage und den Verlust einer ‚Leitkultur‘, bei der die Nutzung von Hochkultur zum ‚guten Ton‘ gehöre, verstärkt. Dennoch fehle es an verbindlichen Auflagen für öffentliche Einrichtungen in Bezug auf Vermittlungsaufgaben, kulturelle Bildung und strategische Publikumsentwicklung, kritisierte Mandel. Großbritannien gehe hier mit gutem Beispiel voran; auch im deutschsprachigen Raum müsse das traditionelle Produzentenparadigma, welches sich stets durch die Unabhängigkeit der Kunst zu legitimieren versuche, überwunden werden.
Steffen Höhne (Hochschule für Musik Weimar) gab in seinem Beitrag Das Kulturpublikum und seine Veränderungen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart einen historischen Überblick über die Rolle des Publikums am Beispiel der Theateraufführung. Im 18. Jahrhundert habe das Publikum noch durch Krawalle, Pfiffe und Ausrufe Mitsprache gefordert; erst im Zuge der Aufklärung sei eine „Aufwertung der Bühne“ und damit das „räsonierende Publikum“ als Ideal und Maßgabe entstanden, deren Vorgaben, Normen und Verbote z.T. bis heute gälten. Nach Höhne war dieses schweigende Publikum, welches keine lauten Zeichen von Gefallen oder Missfallen gibt, während der Vorstellung nicht herumläuft und sämtliches kommunikatives oder affektives Verhalten ins (erst nach 1800 eingerichtete) Foyer verlegt, eine Voraussetzung für die Verfeinerung der theatralen Darstellung. Anhand zahlreicher Beispiele stellte Höhne anschaulich dar, dass dieser „normierende Prozess der Affekt- und Interaktionskontrolle“ des Publikums ein „bis heute wirksamer Disziplinierungsvorgang“ ist, der aber in seinem entmündigenden Charakter nicht mehr als zeitgemäß betrachtet werden kann.
Für Carsten Winter (Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover) ist mit Blick auf die Social Networks und ihre Bedeutung für die Publikumsansprache klar: Kundenbeziehungen lassen sich nicht mehr steuern. Aus CRM (Customer Relationship Management) wird CMI (Customer Managed Interaction). Die Herausforderung, die sich den Veranstaltern stelle, sei diejenige, in den (Online-/)Lebenswelten der Nutzer vorzukommen. Dafür müssten sie sich weiter vernetzen und professionalisieren. Der Wettbewerb entscheidet sich demnach heute darüber, wer Künstler und Fans „integrativer, intelligenter und kreativer“ einzubinden versteht. Wie sich das auf die Angebotsgestaltung auswirkt, ist bisher allerdings kaum erforscht.
In der Diskussion wurde das Beispiel des Thalia Theaters Hamburg aufgegriffen, das erst kürzlich im Rahmen der ausgerufenen „Spielplanwahl 2012/13“ erste (schmerzhafte) Erfahrungen mit der Mitbestimmung des Publikums gemacht hat. Der Vorstoß an sich wurde im Allgemeinen als positiv bewertet, nur seien bezüglich des internetbasierten Stimmabgabeverfahrens handwerkliche Fehler gemacht worden. Die empörten Reaktionen des Feuilletons seien kein Beleg für den Unsinn dieser Aktion, sondern Zeugnis der konservativen Haltung deutscher Kulturjournalisten zum Kulturpublikum. Die Krux: Trotz aller Ambitionen in Richtung jüngerer Zielgruppen müssen die meisten Institutionen der sogenannten Hochkultur berücksichtigen, dass sie finanziell gesehen von ihrem Stammpublikum leben, welches immer noch die konventionellen Formen und Angebote vorzieht.
Im zweiten Teil der Veranstaltung standen die Konsequenzen der Kulturnutzerforschung für Kulturmanagement, Kulturpolitik und Audience-Development-Strategien im Mittelpunkt. Susanne Keuchel (Zentrum für Kulturforschung) verdeutlichte in ihrem einführenden Vortrag, welche Folgerungen sich aus exemplarisch ausgewählten Forschungsergebnissen des Zentrums für Kulturforschung schließen lassen. Die kulturellen Interessen von Jugendlichen, die Heterogenität der „Generation 50+“ und Aussagen über jeweils persönliche Definitionen von Kultur können hier nur beispielhaft aufgezählt werden. Die entsprechenden, statistisch verifizierten Ergebnisse seien, so Keuchel, nicht wegzudiskutieren und sollten u.a. in politischen Entscheidungsprozessen, bei der Gestaltung zukünftiger Konzepte als auch bei der Bewertung der Akzeptanz bestehender Angebote Berücksichtigung finden. Im Zuge der Diskussion um den berühmten „Silbersee“ in den Publikumsreihen betonte Keuchel, dass jede Generation aufs Neue als Zielpublikum für die Hochkultur gewonnen werden müsse. Denn auch die jetzige „Generation 50+“ entscheidet sich nicht plötzlich von selbst, bei Beantragung der Rente auch gleich das Opernabonnement zu buchen.
Am Ende bleibt die Frage, ab wann wir genug über unser Publikum wissen und wie uns dieses Wissen nützen kann. So überlasse ich das Schlusswort Amelie Deuflhard (Kampnagel Internationale Kulturfabrik), die in ihrem Beitrag betonte, dass sie genug über ihr Publikum wisse, als dass sie auf weitere Besucherbefragungen verzichten könne. Vielmehr sei die Aufgabe, „neue Formate für fragmentierte Öffentlichkeiten“ zu entwickeln, um auch jenseits der konventionellen Formen performativer Kunst neue Publikumsschichten anzusprechen.
Von Nicola Bünsch exklusiv für den Arts Admin Blog von JS, Februar 2012
Hierbei handelt es sich um eine gekürzte Fassung.
Die Vollversion wird zu lesen sein in: Bünsch, Nicola (2012): Zukunft Publikum. Neue Beteiligungsformen und interaktive Kulturwahrnehmung. In: Jahrbuch Kulturmanagement 2012, hrsg. von Sigrid Bekmeier-Feuerhahn et al. für den Fachverband Kulturmanagement. Bielefeld: Transcript. (Erscheinungsdatum in Planung.)
Nicola Bünsch promoviert, nach ersten beruflichen Stationen im Theatermarketing, seit 2010 an der Hochschule für Musik Weimar über Markenbildung im Kulturbereich.
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