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Storytelling oder: Die Konstruktion der Erinnerung

Storytelling

Was wir, oder zumindest ich, überzeugt als Erinnerung ausgeben – womit wir einen Augenblick, eine Begebenheit, einen Sachverhalt meinen, die einem Fixierbad ausgesetzt und so vor dem Vergessen bewahrt wurden -, ist in Wirklichkeit eine Form von „storytelling“, Geschichtenerzählen, das sich unaufhörlich in unserem Geist vollzieht und sich oft noch während des Erzählens verändert. Zu viele widerstreitende Gefühlsinteressen stehen auf dem Spiel, als dass das Leben jemals ganz und gar annehmbar sein könnte. Und möglicherweise ist es die Arbeit des Geschichtenerzählers, die Dinge immer wieder von Neuem so anzuordnen, dass sie für den Augenblick einen Sinn ergeben.
— William  Maxwell, im Vorwort zu John Irvings Bis ich Dich finde. 2005

In der Fantasie erschafft man etwas Besseres, man konstruiert etwas aus dem, was anderen oder einem selbst tatsächlich passiert ist. Und eines Tages bildet man sich ein, dass es wirklich so war.
— John Irving im sz-Magazin Interview über Der letzte Sessellift. 2023

Unser Leben ist eine lange, verschlungene Kette von schwimmenden Inseln der Erinnerung, umspült von Vergessen, wir springen von der einen zu der anderen, hin und zurück, und wir sind Virtuosen darin, die Brüche mit Geschichten zu übertünchen, die den anderen und uns selbst ausgreifend und erfinderisch vorgaukeln, wir stünden auf einem festen Grund durchgängigen Erinnerns.
Das Gewicht der Worte, Pascal Mercier. 2020

Schreiben heißt die Welt einatmen. Wir sind alle Geschichtenerzähler. Wir können nicht aufhören zu erzählen. Schreibend halte ich mich am Leben und überlebe. Jeden Tag wieder. Ich schreibe, um diese unglaubliche Gelegenheit, am Leben zu sein, ganz genau wahrzunehmen und zu feiern. Ich schreibe, um einen Sinn zu finden, obwohl es am Ende wahrscheinlich keinen gibt. In einem endlosen inneren Monolog erzählen wir uns Geschichten über uns selbst. Manche sind wahr, einige nur ein bisschen, andere überhaupt nicht. Wir alle sind Fiktion, aber das glauben wir nicht, weil wir uns mitten in ihr befinden wie in einem Fortsetzungsroman.
— Sätze aus Leben Schreiben Atmen, Doris Dörrie. 2019

Die Etagen des neuronalen Storynetzes nehme die Echtzeitinformationen auf und gleichen sie mit vorhandenen Wissen und Erinnerungen ab. Wenn ein solcher Abgleich nicht ganz gelingt, passt unsere Verwaltung im Gehirn das Wahrgenommene bestmöglich an, so dass es in die mentale Röhrenpost eingegliedert werden kann. Das bedeutet auch: Sensorische Inhalte werden von uns unwillentlich manipuliert. Sie werden verändert, komprimiert, mit Filtern belegt, übersetzt und für uns verständlich gemacht. Mithilfe von Mustern, die wir schon immer benutzt haben, um unsere Umwelt zu begreifen, verleihen wir Begebenheiten die anfangs keinen Sinn ergeben oder vielleicht dem widersprechen, was uns vertraut ist, schließlich doch einen Sinn – und sei es, in dem wir Ihnen eine Fiktion über stülpen. Es wird dabei antizipiert oder projiziert, Lücken werden auf Basis eigener Bewertungen gefüllt, andere Aspekte werden ignoriert oder so lange verändert, bis sie passen. Will Storr zitiert in seinem Buch den Neurobiologen Bruce E. Wexler: „Sobald (die internen Strukturen des Gehirns) etabliert sind, drehen sie die Beziehung zwischen dem Inneren und im äußeren um. Anstatt dass die inneren Strukturen durch die umweltgeformt werden, handelt das Individuum nun, und die etablierten Strukturen angesichts der Herausforderungen der Umwelt zu bewahren, und empfindet Veränderungen in der Struktur als schwierig und schmerzhaft.“ Dementsprechend „ignorieren oder vergessen wir Informationen, die mit diesen Strukturen unvereinbar sind, oder wir versuchen aktiv sie zu diskreditieren.“
— aus Erzählende Affen, Samira El Ouassil & Friedemann Karig. 2021

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