Apropos Digital Theatre
Ist das Internet wie in Dave Eggers zeitnaher Utopie „The Circle“ fabuliert auf dem Weg, ein totalitäres Steuerungsinstrument zu werden, ein riesiges Marketinginstrument? Oder ist das sharing-Ideal der Anfänge des Internets kraftvoll genug, um eigene Utopien zu leben? Können, sollen, müssen Theater und andere Kunstinstitute eigene Gegenentwürfe entwickeln, was sie aus diesem kraftvollen Kommunikationsmittel herausholen wollen? Gibt es Wege, digitalisation kreativ zu nutzen und das Internet aus den Verlockungen des Marketings zu befreien? Muss man eine Welt, in der es Internet gibt, nicht zwingend anders erzählen als eine Welt ohne GoogleTwitterFacebook #Radiotheorie? Wie kann das Netz kreativ nutzbar gemacht werden für das Teamkunstwerk der physikalischen Kopräsenz schlechthin: das Theater? Gibt es neue Kunsthybride, die sich nur zwingend mit dem Internet ergeben – ist das Netz auf der Bühne ein neuer Mitspieler, bald nicht mehr wegzudenken wie die Videoprojektion? Oder eignet es sich maximal als erweiterte, weltweite Spielstätte?
Was passiert seit dem ersten Theatercamp 2012 in Hamburg am Thalia Theater? Wir vertiefen lernend und performend unsere Experimente, z.B.
2013 eröffnen wir im November die erste TwitterTheaterWoche: Twitters Ansatz war ganz old school, einen Blick hinter die Kulissen anzubieten; „lernt all die verschiedenen Menschen kennen, die hinter einer erfolgreichen Aufführung stecken, bekommt Einblicke in Generalproben, Maske und Kostümfundus, in das Leben als Schauspieler und erfahrt das Medium Theater aus einer ganz anderen Perspektive. Noch nie zuvor hattet ihr die Möglichkeit, euch so unkompliziert und gleichzeitig so intensiv mit dem Bereich Theater auseinanderzusetzen“ – alle Kanäle (Twitter, Google+, etc.) leben von content. Sie bieten die Kommunikationswege, leere Autobahnen, und freuen sich, wenn ein inhaltsstarkes „Unternehmen“ wie ein Theater sie mit saftigen Geschichten belebt. Führt das zu neuen Zuschauern? Welchen Mehrwert hat das für ein Theater neben dem Anstieg von Followern bei Twitter? Twitter macht Spaß, weil es die konzise Kommunikation schult (140 Zeichen sind kein Blog…) – aber eine Kommunikationsmacht wie in Amerika ist es in Deutschland noch nicht. Wollen wir 2nd Screens im Theater haben? Livekommunikation während der Aufführung?
Wir experimentieren weiter. Im Februar 2014 folgt ein „Theatercamp light“:
In Kooperation mit der Social Media Week haben wir in Hamburg den einzigen explizit künstlerischen Austausch beim international zeitgleich u.a. in New York, Kopenhagen, Tokyo, Barcelona stattfindenden Event eingespeist. Die Sessions hatten diesmal stärker den Charakter von Präsentation und Diskussion im Austausch mit dem Publikum als im ersten Barcamp um die Phänomene von Theater und Netz.
In einem Praxisfallbeispiel haben wir uns erstmals in den Bereich 2nd Screens vorgewagt und eine Vorstellung „In der Republik des Glücks“ von Martin Krimp für einen Tweetup geöffnet. Wir haben den Twitterfeed, der fürs Nachgespräch auf einer Twitterwall weiterhin zu sehen war, zum Nachlesen gesichert. (2019 allerdings ist er nicht mehr zu finden… das Netz vergisst also doch…)
In einer weiteren Session zu Gast beim NDR „Proben 2.0 – Schutzraum vs. Partizipation“ befragt Thalia Schauspieler Tilo Werner unseren Leitenden Regisseur Luk Perceval, was ihn bereits all die Jahre an den Social Media reize, und ob er z.B. wirklich die Proben habe live ins Internet streamen wollen? Sehenswert!
Thalia Schauspieler Daniel Lommatzsch berichtet außerdem vom überwältigenden Erfolg seiner Crowdfunding-Kampagne für seinen ersten Film „Am Ende ist man tot“ – erkenntnisreich für alle Crowdfunder und solche, die mehr darüber wissen wollen, was ein mögliches Erfolgsrezept ist!
Und unsere interkulturellen Blogger, die Thalia Pfadfinder (mittlerweile bereits Generation 4 des Pilotprojekts!), schildern in einer eigenen Session ihren Einstieg ins Theater via Workshops zu einem Thema des europäischen Theaterkanons und Lessingtageblog.
Anne Peter, amtierende Chefredakteurin von Nachtkritik, hat die aktuelle Suche in einem weitumspannenden Essay skizziert und mit uns ausgewertet und analysiert.
Anfang Juli 2014 nehmen wir an der London Summer School „eCulture“ teil und erfahren im Austausch mit dem multimedialen College Ravensbourne und der University of Birkbeck den aktuellsten Stand des Umgangs mit Internet, Streaming, Marketing und Social Media in Great Britain und Amerika. Eine Agenda der digitalen Zukunft für die Kunstinstitute der Hansestadt Hamburg wird dabei entwickelt.
Die Reise geht weiter!
Die COVID-19 Pandemie hat Digital Theatre einen kräftigen Boost verschafft.
Das Dossier der ZEIT No.33/2014 widmet sich den „Vereinigten Staaten von Google“ und lässt die Utopien einer neuen, von Technik verbesserten Weltordnung (ausgiebig entwickelt in Eric Schmidts und Jared Cohens „Die Vernetzung der Welt“ http://www.zeit.de/2013/19/eric-schmidt-jarred-cohen-vernetzung-der-welt) auf Realitäten im Silicon Valley treffen, u.a. die Protestaktionen wegen der Google Busse in San Francisco. Lesenswert! http://www.zeit.de/2014/33/suchmaschine-google-zukunft