Blog Kunst kommunizieren

Making-of Gespenster

LOGBUCH | Lockdown 2021

Wir hatten Zeit. Und gleichzeitig war diese Zeit voller Sorge und stoßweise voller Betriebsamkeit und Hektik. Wir wussten nicht, wann der Spielbetrieb weitergeht. Alles in permanenter Bewegung.  Vieles gleichzeitig. Für die Festangestellten im Theater eine ebenso große Herausforderung wie für die Freelancer. Wir wollten diese Zeit nutzen und vor der Sommerpause die Konzeption so weit vorantreiben, dass die Spieler:innen bereits eine Fassung mit in die Ferien nehmen können, dass die Werkstätten und Gewerke schon mit unseren Ideen arbeiten können. Eine luxuriöse und ungewöhnliche Situation. Im Folgenden rekonstruieren wir diesen Arbeitsweg und schreiben das work-in-progress fort. Und ebenso verschlungen wie Ibsens Erzählung springen wir in unseren Erinnerungen vor und zurück. Alle Spieltermine sind bereits veröffentlicht. — 16. Juli 2021

ZWÖLF

Geisterstunde: Corona
9. März 2022

Es hat sich ausgezahlt, dass wir so intensiv geprobt haben und ein emotionales, durchgearbeitetes Ergebnis vor der Endprobenwoche erreichen konnten, denn: Auch uns hat es erwischt. Corona geisterte durch alle Ebenen, die berühmten Geistervorstellungen wurden zur Geisterinszenierung, auch ich irgendwann zur Generalprobe per ZOOM zugeschaltet… Es hätte noch eine Premiere werden können, aber irgendwann waren dann doch zuviele neuralgische Stellen betroffen.

In den Endproben wurde schon fotografiert.

Gleichzeitig auch die Mehrzahl gesund und voller Mut und Tatkraft weiterhin, so dass trotz ausgefallener Premiere nun heute die erste Vorstellung in Aurich stattfindet!

Gespenstisch dunkel (=unbeleuchtet) – gelungene GP gestern in Jever, ein Fest für ZOOM.

ELF

Das Gespenst der Syphilis
7. Februar 2022

Ein Gespenst ging lange Zeit um in Europa. 1494 wurde erstmals das Krankheitsbild der gotteslästerlichen „Lustkrankheit“ entdeckt und es sollte über 400 Jahre dauern, bis die Wissenschaft 1905 den Erreger, das Bakterium Treponema pallidum, die Übertragung von Syphilis ausmachen und dadurch eine effektive Therapie entwickeln konnte.

Auch noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in dem es durch das Bröckeln der christlich-sexuell repressiven Moralvorstellungen innerhalb des Bürgertums und mangelndem Schutz vor Geschlechtskrankheiten eine erhöhtes Vorkommen von Syphilis gab, galt diese als göttliche Strafe für ein sexuell aktives, ausschweifendes und frevelhaftes Leben, will sagen: wer vor oder außerhalb des Heiligen Bundes des Ehe Sex genoss und in Kreisen verkehrte, die nicht mit den Wertevorstellungen der Kirche konform waren, musste fast schon damit rechnen, mit der „Wurmstichigkeit“ Buße tun zu müssen.

Als literarisches Motiv war die Syphilis daher im 19. Jahrhundert überaus beliebt, um den Verfall des Bürgertums, die unterdrückenden Strukturen von Gesellschaft und Kirche einem sich – meist noch vergeblich – dagegen aufbäumenden Menschen, der an seinem Streben nach einem freiheitlicherem Leben scheitert, gegenüberzustellen. Syphilis, war eine Krankheit, die wie ein Damoklesschwert über den Sehnsüchten des Individuums schwebte.

Das Wissen über Syphilis war allerdings anoch fehlerhaft – was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass brauchbare und handfeste wissenschaftliche Erkenntnisse erst 1905 ans Licht kamen und es selbst dann noch einige Zeit dauern sollte, bis man die Krankheit, ihre Übertragung und ihren Verlauf vollends verstehen konnte.

Auch Ibsens Wissen war unzulänglich. In den Literaturwissenschaften ist es inzwischen unumstritten, dass seine Annahmen bzw. Schilderungen sogar völlig fehlerhaft waren – was ihn aber dankenswerterweise dennoch nicht davon abhielt, „Gespenster“ zu schreiben. Betrachtet man Ibsens Wissensstand, so korreliert er erstaunlicherweise sehr akkurat mit den wissenschaftlichen Annahmen der Zeit. Einerseits wusste man bereits damals, dass Syphilis über sexuellen Kontakt oder eine Sekretübertragung über die Schleimhäute weitergegeben werden konnte, andererseits glaubte man aber auch an das Prinzip der vererbten Syphilis, d.h. dass erkrankte Väter (und nur diese!) Syphilis über ihr Sperma weitergeben konnten und ihre Kinder dadurch ohne eigenes „Fehlverhalten“, quasi als Erbschuld, für die Sünden ihrer Väter leiden mussten und sie von der Syphilis, wie von einem Gespenst, verfolgt wurden.

Tatsächlich ist es so, dass sich Syphilis nur auf ein ungeborenes Kind übertragen kann, wenn die Mutter während der Schwangerschaft akut an Lues erkrankt. Die Übertragung erfolgt in diesem Fall über die Gebärmutter.

Der französische Arzt Jean Alfred Fournier schrieb 1882 in einem Untersuchungsbericht, dass „die Syphilis der Eltern sich durch Vererbung auf die Kinder übertragen kann, wie es nicht nur die Syphilis, sondern eben auch andere Schwäche- und Krankheitssymptome können, […] wie eine Art Gespenst der luetischen Diathese (syphilitischen Disposition) der Eltern.“

Doch die falsche Annahme zur Übertragbarkeit war längst nicht alles. Man glaubte auch, dass in Fällen von Erbsyphilis die Krankheit bei den Kindern erst im Erwachsenenalter ausbrechen könnte, dann allerdings ohne Initialstadium und gleich mit konstitutionellen Symptomen der  Neurosyphilis, die mit Schäden des Zentralen Nervensystems, progressiver Paralyse und Rückenmarksschwindsucht einhergeht – übrigens auch alles Folgeerscheinungen der damaligen Syphilistherapie, bei der man Patient*innen mit Quecksilber behandelt hat. (Haben Erkrankten die Syphilis überstanden, waren sie über kurz oder lang meist dennoch an einer Quecksilbervergiftung verstorben…)

Liegt in dieser falschen Annahme vielleicht auch der Grund für Osvalds plötzliche Verschlechterung und den rapiden Krankheitsverlauf verborgen?

Natürlich wissen wir, dass Ibsen sich das Syphilis-Motiv zueigen gemacht hat, um die Doppelmoral der damaligen Zeit zu beleuchten und nicht, um eine realistische Genese der Krankheit darzustellen. Dennoch kann man höchstwahrscheinlich davon ausgehen, dass er alle Erkenntnisse, die man 1881 über Syphilis hatte, genau studiert und entsprechend verarbeitet hat.

Allerdings hat er dabei eine entscheidende Frage außer Acht gelassen: wieso leidet Osvald an der Syphilis seines Vaters, nicht aber Regine? Und wenn Kammerherr Alving Syphilis hatte, weshalb hatten Helene und Regines Mutter Johanne, die beide mit ihm Geschlechtsverkehr hatten, keine? Und was ist mit Engstrand? Hat er doch Johanne geheiratet, als sie bereits von Kammerherr Alving schwanger war…?

Würde man der damaligen Logik folgen, müssten nicht alle in diesem Stück an Syphilis leiden? Die Antwort ist: Ja, wahrscheinlich. Und obwohl sie nicht alle am Krankheitsbild der Syphilis leiden, so leiden sie doch alle an dem, wofür diese steht: an der Doppelmoral und an dem gescheiterten Versuch, sich vom Erbe der Vergangenheit zu befreien. — Ein Originalbeitrag von Kerstin Car

ZEHN

Work Work Work
30. Januar 2022

Drehen für die Zwischenwelten, Rohrschach-Style

Wir arbeiten uns immer weiter und immer tiefer in den Stoff ein. Die Bauart der Salonkomödie, die Ibsen mit hartem Tobak ausfüllte, wird unser immer greifbarer, gerade auch durch unsere Art zu streichen, in unserer Fassung folgt auf jeden Versuch für Klarheit zu sorgen eine Unterbrechung. Oder die entscheidende Figur tritt auf und stoppt die Enthüllung. Diese langsame Erkenntnisdramaturgie treibt unser immer weiter in diese langen Tages Reise in die Nacht, alles passiert innerhalb eines halben Tages, die gesamte emotionale Innenwelt der Figuren wird ausgeleuchtet und zerrüttet.

Zeitgleich denken wir schon über Musik nach und über Video, über zusätzliche Ebenen, die dem hermetischen Stoff eine Weite  entgegensetzen. Der Tiefe und Schwere auch eine Leichtigkeit.

NEUN

Die erste Woche
16. Januar 2022

Es ist herrlich wieder auf der Probebühne zu sein. Und in Wilhelmshaven, das uns dem Stück entsprechend mit wohlig düsterem Nebel begrüßt hat.

Who’s your Daddy? Die Proben auf der Probebühne in der Nordseepassage haben begonnen.

Die Kolleg*innen sind unglaublich gut vorbereitet was Textkenntnis und emotionale Erforschung der Figuren angeht. Das ganze Leben auf Probe fühlt sich bei allen Vorsichtsmaßnahmen wieder „normal“ an. Wir erforschen die Szenen des ersten Aktes und denken nach über diesen Kosmos von Sex, Moral, Religion, Schuld, Erinnerung, Verdrängung und Skandal. Die inneren Motive der Figuren sind manchmal schnell an der Oberfläche, dann wieder verschwinden sie in den Untiefen der emotionalen Stromschnellen dessen, was ein Mensch nicht preisgeben will, vor sich oder der Welt. Die Suche nach den emotionalen Treibern und Triggern ist aufregend. Und das gemeinsame Erfinden möglicher alternativer Motive. Was z.B. nicht mit dem Text funktioniert aber eine tolle Story wäre: Was wäre wenn Helene Alving das ganze Wochenende minutiös geplant hätte? Vom Ausprobieren der brennenden Hobelspäne mit Engstrand als perfektem Sündenbock, wenn sie sowohl die Rache an Manders vorbereitet hat als auch das Abfackeln der Erinnerungen an ihren Mann? Was von diesem Gedankenspiel vielleicht übrig bleiben wird: Am Ende ist alles weg. Der ehemalige Sehnsuchtsmensch Manders, der verhasste, unglückliche, mißbräuchliche Ehemann und sogar der Sohn. Sie ist Mitte vierzig und allein. Was, wenn wir mit diesem Bild enden? Sich alle Verwicklungen entflochten haben und sie einfach da steht. Allein. Und wir die Bewertung den Zusehenden überlassen. Welches feministische Kapital hat auch dieser Ibsen? Und was uns auch aufgefallen ist: Die Realitäten des Naturalismus lassen sich nicht immer überprüfen, einiges endet im Ungewissen oder passt nicht zusammen. Bei Schiller rechnet man damit die ganze Zeit; dass für die effektvolle Story die Anschlüsse nicht stimmen. Bei Ibsen dachte ich immer, die Handlung ist so wasserfest wie ein Filmklassiker? Vor allem wechselt psychologischer Realismus sich mit lyrischen, symbolistischen Motiven ab, die nicht durch pure emotionale Situation aufregend werden. Allein die Wiedergänger, die von Kerstin M. Car sogar in einem norwegischen Artikel als stehender Begriff für „Syphiliskinder“ identifiziert wurden. Kurzum: Die Reise ist gestartet.

ACHT

Osvald und die Sterbenden
1. Januar 2022

Es hat lange gedauert, bis ich mich Osvald hier schreibend zugewandt habe und ich habe über den Grund lange nachgedacht. Einiges davon hatte Jan-Eric Meier beim Kennenlern-Kaffee auf ZOOM im Dezember schon gebeichtet, und da liegen die Wurzeln dieses Zögerns: Osvald ist für mich erstaunlich persönlich. Ich habe Jan-Eric davon erzählt, dass „Gespenster“ eines der ersten Dramen überhaupt war, dass ich sehr jung freiwillig und intensiv gelesen habe, dass dieser Stoff zu mir gesprochen hat, mich verstört hat, aber vor allem… dass ich mich mit Osvald identifiziert habe. Mit dem jungen Künstler, der die Enge der heimatlichen Provinz nicht aushält. Und der zurück kommen muss und dann für immer dort steckenbleiben wird. Weil er todkrank ist, durch eine ominöse und verheimlichte Geschlechtskrankheit nicht mehr leitungs- und lebensfähig ist. Tja, das waren die Geschichten, die damals jungen Männern, exzentrischen Junggesellen und Freunden von Tennessee Williams und Dorothy mit auf den Weg gegeben wurden. Wahrscheinlich war das 1988, ich war 17 Jahre alt und auf der Suche nach Geschichten, die mich etwas angehen. Die mir von einer Welt erzählen, die mit mir zu tun hat. Und während heute die Frage der Repräsentanz und auch der Abbildfunktion von Kunst deutlich thematisiert wird, gab es für „uns“ noch nicht soviel Geschichten. Schwule Männer zu der Zeit waren Sterbende. (Vgl. dazu auch „The Celluloid Closet – Gefangen in der Traumfabrik“.) Die AIDS-Epidemie zerstörte eine ganze Generation und befeuerte gleichzeitig eine Bewegung. Rosa von Praunheims „Silence = Death“ Trilogy erzählte diese Geschichte eindrucksvoll und gab dieser Epoche ein erstes Narrativ. „Wir“ freuten uns, wenn wir von Tom Hanks verkörpert wurden, der dann für das gefühlvolle Sterben auch gleich einen Oscar bekam und Jonathan Demme aus der Klemme befreite, in der ihn seine Darstellung von Buffalo Bill im furchterregenden „Schweigen der Lämmer“ gebracht hatte, auch davon erzählt „The Celluloid Closet“. Wie sich heute Frauen endlich innerhalb unseres Business erfolgreich weigern ständig auf den Boden geschubst und am Ende der Story ermordet zu werden, so stand ich 1988 irritiert vor „Gespenster“, dem Abbild, dem Schreckbild, der spiegelnden Todesfalle. Das zweite Stück, das mich so existenziell beschäftigt hat, das war übrigens „Lulu“, damals hatte Peter Zadek mit Wedekinds „Die Büchse der Pandora“ die Urfassung wiederentdeckt und in Hamburg am Deutschen Schauspielhaus spektakulär „uraufgeführt“. Ebenso problematisch und faszinierend – aus ähnlichen und vielen anderen Gründen.

Osvald also ist ein Vertreter der tragisch Sterbenden des letzten Jahrhunderts, der Libertins, die nicht leben sollten, nicht leben durften, ein Künstler – und da öffnet sich die zweite Frage: Was ist unser Bild vom Künstler? Der genialische Perverse, der lockere Paradiesvogel, der exzentrische Dandy, Muttis Liebling? Der Skandal im verregneten Fjord am Jadebusen? Wir werden es herausfinden. Denn alle Fragen, die ich mitbringe, die werden auf den Cast 2022 treffen und erst aus den Kolleg*innen heraus zum Leben kommen.

SIEBEN

Die Engstrands
4. Oktober 2021

Regine und ihr Adoptivvater sind für mich insofern aufregende aber schwere Figuren, weil sie essentielle Gegengewichte zum bourgeois-privilegierten Lebensmodell der Alvings verkörpern, aber nur skizzenhaft erzählt werden: Wie genau weiß Regine um Engstrands Rolle im Leben ihrer Mutter? Wie brutal möchte Engstrand Regine in seinem Etablissement tatsächlich als Escortgirl einsetzen? Eines ist überdeutlich erzählt: Engstrand zieht Manders bewusst über den Tisch, diese männerbündlerische Lügenwelt lässt Helen mit einem abgebrannten Haus zurück ohne jemanden, der Verantwortung übernimmt. Regines Flirt mit Osvald, dieser Wille zum Aufstieg, dieses drastische Einschätzen von Chancen und Hackordnungen, das ist fragmentarisch skizziert und am ehrlichsten erlebe ich sie am Ende, wenn sie jede Attitude von Wohlerzogenheit oder Freundlichkeit fallen lässt. Überlebenskämpfer sind die Engstrands und insofern vor allem: Kampfbereit.

Demgegenüber stehen gewisse Drolligkeiten in Engstrands Verhalten, die fast ins Volkstheater-hafte hinein ragen. Das reizt mich und stößt mich zugleich ab. Ist das comedian relief oder sehr langsam erzählter Humor, Netflix 1889? Wir werden es rausfinden. Die dunkle Seite der Figuren empfinde ich als sehr viel ausleuchtenswerter…

Eine perfekt vorbereitete und schöne Bauprobe in Wilhelmshaven am 1. November 2021.

SECHS

Besuch vom Exorzisten: Manders
3. August 2021

In unserer Besetzung erzählt sich die Geschichte auch als Liebesgeschichte: Manders und Helene kennen sich seit über zwanzig Jahren, wahrscheinlich genau ein Jahr länger als Osvalds Alter. Sie waren jung, er ein junger Priester, sie frisch verheiratet mit dem viel älteren Mann. Für sie war er ein möglicher Rettungsanker und sie wurde für ihn zur Gefahr. Nicht nur für seine Karriere, sondern für seine Entscheidung. Und je mehr er diese Gefühle abgetötet hat, desto brachialer entwickelte sich sein Weltbild und sein Selbstbild, seine Selbstgerechtigkeit. Er und die Kirche hatten die Macht, über das seelische, geistige Wohl des Umfelds zu entscheiden, die moralischen Daumenschrauben anzulegen und einzuteilen, was richtig und was falsch ist. Wo kommt er her? In meiner kleinen Erzählung hier und heute wäre schlüssig, dass er selber ein Waisenkind ist, dass in einem kirchlichen Institut aufgezogen (und programmiert, infiltriert, erleuchtet) wurde. Seine Ansichten über „das Leben“ wurden firm gezimmert und dieses kurze Flackern von Lust und Zuneigung mit Helene hätte das gesamte Bauwerk einstürzen lassen können. Entsprechend besonders ist diese Begegnung zwanzig Jahre später. Er hat mit ihr über die „richtige Sicht“ auf die Welt diskutiert, über die einzige Art wie man leben sollte und sie hat ihre ganz eignen Schlüsse daraus gezogen, wie sagt, hat sie an seinen Lehren entlang begonnen nachzudenken und nicht mehr aufhören können, bis sie den ganzen Faden in der Hand hatte, das Gewebe aufgeriffelt war. Ist die Begegnung, die wir erleben werden, ein Duell? Ein Kampf auf Leben und Tod um „die Wahrheit“? Hat diese Anziehung zwischen den beiden noch einen Wert, noch eine Kraft? Ist es ein Machtkampf um die Deutungshoheit? Denn die toxische, maskuline Welt der (kolonialistischen) Privilegien wird von wenigen Instituten so traditionsreich bebildert wie von von der Kirche. Wenn Helene die Statue stürzen will, dann kann er es nur persönlich nehmen. Kann es in so einem Kontext überhaupt noch Raum für Liebe geben? Oder für Lust? Wer exorziert hier wen?

Moods von Frank zu: Manders, dessen Vornamen wir nicht wissen und den wir von Helene auch einfach immer mit dem „Manders“ anreden lassen.

FÜNF

Notizen zum Text
22. Juli 2021

Wenn ich mich an diesen Arbeitsprozess zurück erinnere, dann fällt mir als Erstes das Wort Essenz ein. Wie Kerstin und ich Szene für Szene danach geschürft haben, was ist das Wichtigste dieser Szene für mich? Wie sind die Konflikte noch höher zu treiben? Wann lenken wir kurz ab, wann geht es um Verschnaufpausen? Wieviel der Statusgesellschaft 1890 können wir retten, wieviel davon braucht es für die Handlung und wann wird es schnuckelig wie ein Häkeldeckchen? Mir kam immer wieder bei den ausführlichen Beschreibungen auch des Raumes von Ibsen in den Kopf, dass das damals absolut neuartig war, dieser Realismus. Und dass Ibsen diesen fast naturalistischen Ansatz aber symbolistisch auflädt. Und das beginnt schon beim Titel. Diese „Wiedergänger“, diese unverarbeiteten Zombies, die den Menschen durchs Hirn spuken und deren Leben versauen durch falsch verstandene oder pervers tradierte moralische Vorstellungen, die sollen ans Licht gezerrt werden – auf dass die Zusehenden erschauern und sich mehr trauen in ihrem Leben? Dabei ist auffällig wie immer bei Ibsen: Dass er die Hauptlast des Tragischen der Frau übergibt. Einerseits stemmt sie sich mit einer Kraft dem Verlogenen und Toxischen entgegen. Andererseits kann sie gegen diese verwickelten Seilschaften der ins Lächerliche ragenden Männer nicht gewinnen. Wie kriegen wir die Sprache der bereits großartig trockenen Übersetzung von Angelika Gundlach noch trockener, noch pointierter, noch brutaler? Wie wird dieses Duell zwischen Helene und Manders gleichzeitig auch ein Kampf um vertane Chancen, falsche Türen im Leben und um das Ende einer großen Liebe? Wie wird Osvald handfest greifbar und ein junger Mann, um dessen Absturz wir tatsächlich mitleiden? Wie kann Regines brutale Berechnung „sympathisch“ nachvollziehbar sein, wie wird sie zur ehrlichsten Figur im ganzen Stück – obwohl sie die meiste Zeit situativ anderen etwas vorspielt? Und wie wird Engstrand gerissen, grausam und lebensklug ohne auf eine fast Ohnsorg-putzige Art (und damit meine ich das Ohnsorg meiner Kindheit, das ich mit Begeisterung geguckt habe, wie alle Volkstheater ab Willi Millowitsch – nicht das jetzige moderne Ohnsorg am Hamburger Hauptbahnhof) der Humorgarant zu sein? Zu den Figuren schreibe ich vielleicht noch jeweils einzeln mehr. to be continued…

VIER.2

Raum und Visuals
3. August 2021

Am 21. Juni trafen Frank und ich uns in Berlin während der WA-Proben zu #dieWelle2020 und haben ganz klassisch und live und analog das Stück am Modell durchgearbeitet.

Wir haben unseren Entwurf überprüft im Motel ONE an der Gedächtniskirche in Berlin – und wir sind froh: Die scheinbar statische Handlung wird in Bewegung kommen. Und die Erkenntnisse über die Erzählform wird Konsequenzen haben für die Außenhülle.

Erstaunlich und doch fast banal: Live und zusammen haben wir ganz andere Dinge noch mal gesehen als via ZOOM. Der Widerspruch zwischen dem eleganten, cleanen Spiegelraum innen, Turandots Eishöhle/Helenes Raum, und dem verrotteten verbrannten Außenraum brachte uns noch einen Gedanken weiter: Was wäre, wenn der ganze Grusel dieser Familienaufstellung auch noch mehr Horrorelemente beisteuern würde? Dieser ganze kirchliche, brutale Zusammenhang, den Manders mitbringt? Dass diese Nischen, die man für geheime schnelle Absprachen vorbeiwehen lassen kann, wenn die sich ergänzen um Nischen voller Totems der Story, wie in einem Stephen King Roman…

Über den Weg dahin schreiben wir in VIER.1

VIER.1

Notizen zum Raum
21. Juli 2021

Die Arbeit am Raum hat sich neben der Arbeit am Text über mehrere Monate erstreckt. Frank hatte zuerst einen Entwurf im Kopf, der sich am Skandinavischen und an der szenischen Grundsituation orientierte: Einen in sich geschlossenen weiten leeren Raum mit einer Fensterfront im Hintergrund und nur einer einzigen Tür für Auftritte und Abgänge, also die Abstraktion dieses Ibsen’schen Wohnzimmers. Mit diesem Entwurf sind wir gedanklich umgegangen und merkten, dass etwas Entscheidendes fehlte, obwohl der Raum ästhetisch groß war. Für mich ging es immer wieder um die Frage, wie komme ich zwischen die Handlung? Diese Art Stoffe neigen dazu deutlich die Hand zu führen, wenn man sie nicht komplett auf links drehen sondern erforschen will. Ich wollte zwischen die einzelnen Szenen kommen. Einen Raum, der den Schauspieler:innen Aufgaben gibt, der sie körperlich in Bewegung setzte, weil das Stück scheinbar vorgibt, dass ständig gesessen und gesprochen wird.

Der durchstehende Einraum-Psychothriller, auch hier schon aufgeladen mit Licht und Schatten und E.A. Poes Raben.

Im nächsten Entwurf entsteht eine Erzählmaschine voller Spiegeln, das hat mich sofort fasziniert, die Mechanik, dass die Handlung immer wieder weitergedreht oder gestoppt wird, dass sich die Figuren mehr und mehr selber erkennen müssen. Und wer treibt die Handlung voran, wer schiebt sie an? Wo kann man sich heimlich treffen? Wer vertraut wem etwas an…

Und dann hat Frank noch einen Entwurf gemacht, der diese beiden Komponenten zusammenführte: Die geschlossene Kiste, in der sich im verregneten Fjord das Unglück entblättert und einem Spiegelkabinett wie auf dem Rummel. Auch aufregend.

Geschlossener Raum, Spiegelkabinett, Rummel, Kaleidoskop … Die Arbeit von mehreren Monaten.

Und das haben wir noch weiter gedacht und endeten bei einem Raum, auf den ich mich jetzt schon freue: Ein verspiegeltes Oktogon, das von verschiedensten Seiten genutzt werden kann. Das innen Geheimnisse und Verrat atmet und außen voller gruseliger Nischen Begegnungsort für schnellen, gehetzten Austausch von Vertraulichkeiten ermöglicht, dazu noch eine ganz andere Ästhetik, etwas Verwitterndes, Moderndes, Faulendes ist diese Außenhülle und innen ist dieser kühle Eispalast. Helenes Raum.

Von hier aus gehen wir weiter: Wer weiß was? Was ist wann zu sehen und was bleibt verdeckt, ist nur in der Spiegelung ahnbar? Was drängt mit welcher Kraft an die Oberfläche? Rorschachtests und doppelte Böden.

gespenster. lichtscheue beängstigende gestalten in einem sozialen korsett und einer von patriarchalischer dominanz geprägte gesellschaft. so reaktionär diese beschreibung auch klingen mag. so aktuell sind die faktoren von macht und manipulation, me too und scheinbarer gleichberechtigung. die konzeption bedient sich sehr bewusst verschiedener ästhetischer mittel, um die soziale interaktion der figuren und deren familiäre und gesellschaftliche abhängigkeit zu zeigen. der raum ist die bildgewordene macht quälender kaleidoskophafter sehnsucht nach dem ‚mehr‘ an möglichkeiten, das allen figuren immanent ist. in seiner vervielfältigungssystematik stellt er den figuren eine haltlose heimat entgegen, die jenseits psychologischer verankerung den figuren einen endlosraum entgegenstellt, in denen gefühle, wünsche, sehnsüchte und hierarchien verhandelt werden. mystische, verklärende und verstörende bildwelten und zitate aus dem leben des abwesenden, wenngleich doch auch nach seinem ablebenden dominierenden vater umkreisen die figuren innerlich, wie äusserlich. eine gespenstische schattenwelt, die sich nach erleuchtung sehnt. — Frank Albert, 19. Juli 2021

DREI

Tonalität: Die Struktur des Textes
April, Mai, Juni 2021

Die Suche nach einem direkten Ton, der die Geheimnisse nicht verrät, aber das Ornamentierte der Sprache aus den Angeln hebt, das hat Kerstins und meine Arbeit beflügelt. Die Sprache teilweise durch Striche so direkt zu machen, dass die Figuren jetzt mit uns sprechen, ein Aufbrechen der banalen Dialoge (Netflix 1890) in eine surrealere monologische Struktur… Und das Herausarbeiten der Figurenbeziehungen, das stand im Zentrum unserer Strichfassung, die wir via ZOOM immer wieder neu hin und hergespielt haben. Dabei hatte ich auch immer schon im Kopf, dass ich das Gruselige, das Perverse der Geschichte herausarbeiten wollte. Dass Manders Zugriff in die Geschichte nicht nur ein Beispiel toxischster Maskulinität ist und dazu einlädt, das Patriarchat abzufackeln, sondern: diese Übergriffigkeit der Kirche, dieses erstickende emotionale Motiv sollte einen Aspekt des Horrorgenres bedienen, wer schreibt hier wem zu, wie sie zu leben hat… Und diese Horrorelemente wurden auch wieder für den Raum wichtig.

Kerstin, yours truly und Frank am 31. Mai 2021 kurz vor der Sommerpause, die Textfassung ist fast fertig und kann vor dem Sommer verschickt werden und auch der Raum ist in den letzten Feinarbeiten. Musikbeispiel von Tom Lane, kurz vor dem Brand.
ZWEI

Helene
8. März 2021

Mit Moods und assoziativen Bildwelten sind Frank und ich in die Arbeit an der Konzeption gestartet. Parallel haben Kerstin und ich begonnen, die Fassung zu erarbeiten, nicht nur wegen möglicher COVID-19-Auflagen, sondern auch aus unserem Bedürfnis, diesen Text als eine Essenz der Konflikte und Emotionen zu begreifen ein aufwändiger Prozess. Ebenfalls zeitgleich sofort mit detaillierten Kostümentwürfen, mit Gedanken zu den Figuren. Wir wissen, dass unsere Besetzung ungewöhnlich in dem Sinne ist, dass die Protagonist:innen jung sind – und das finde ich natürlich sofort aufregend. Während die anderen Ibsen-Heldinnen oftmals den Titel schon beherrschen, wie Nora oder Hedda Gabler, ist Frau Alving in der Personenbeschreibung die Witwe des Hauptmanns und Kammerherrn. Also über den Status ihres Mannes gesellschaftlich definiert. In einer sozialen Enge an der Spitze einer kleinen Community etabliert aber eben auch festgefroren an einem Fjord wie in der Frau vom Meer. Das kann ich literarisch und theaterwissenschaftlich genießen, für die Theaterarbeit interessiert mich das wenig. Ich möchte auf eine duzende Ebene mit den Figuren kommen in diesem Fall, ich will verstehen, was diese ganzen Verklemmungen und Zurückhaltungen und Verdrängungen ermöglicht oder angetrieben hat. Warum hat Helene ihr Leben so gegen die Wand gefahren bei bester Versorgung? Eingekerkert in einer unglücklichen Ehe? Denn bei aller historisierender Distanz, für die wir uns sofort beim Kostüm entschieden haben, müssen wir ja ran an die Figuren, an Manders, an Helene, an Osvald.

Wenn die Schauspielerin jünger ist als die klassische Besetzung einer Mittfünzigerin, dann entstehen für mich dabei interessantere Setzungen und Deutungen: Is it a Golddigger trapped in an unhappy marriage? Quasi Milena Trump 2035, zu Sinnen gekommen? Warum hat diese Frau mit Anfang zwanzig ihr Leben auf einen viel älteren Mann eingestellt? Und wo ist sie dabei geblieben? Wie ging das Leben für sie weiter? Wo steht sie in dem Moment, wenn wir sie kennenlernen.

Dita van Teese, Penny Dreadful und ein Cul-de-Paris, das Korsett als tragbares Gefängnis

Die Schichtung verschiedener Elemente ermöglicht uns eine heutige Frau in die Verfremdung dieses Dramas zu setzen. Eine Frau mit Intellekt, Willen, Führungskraft und Leidenschaft, die nur noch mit Mühe die Fassade der Umgebung erträgt und aufrecht erhält. Die vielleicht mit beobachtender, ruhiger Lust den Zusammenbruch des Hauses Alving herbeiführt… und dabei einen unglaublichen Preis bezahlt.

EINS

Skandal 1890, skandalös 1988 – und 2022?
2. März 2021

Apropos Machtmissbrauch und das Ende toxischer Maskulinität in patriarchalen, kolonialistischen Herrschaftssystemen, das uns während des Lockdowns in unseren Arbeitsstätten in Aufregung versetzt in Berlin (Volksbühne, Gorki) und Düsseldorf:

Wenn übergroße Vaterfiguren zum Problem werden. Wenn es Zeit wird, sich von Illusionen zu verabschieden. Wenn Frauen sich aus tradierten Rollen herausarbeiten. Dann ist manchmal Henrik Ibsen kein schlechter Stofflieferant. Seine „Wiedergänger“, wie  der größte Theaterskandal des 19. Jahrhunderts, „Gengangere“, passender aus dem Norwegischen zu übersetzen wäre, war eines der ersten Dramen, das ich damals verschlungen habe, mit 17 in der rheinischen Provinz. Das war 1988. Draußen tobte eine Seuche. Aber damals war es keine multimedial ausgeleuchtete Epidemie, die uns alle betraf, sondern eine tückische virale Erkrankung, die oftmals junge Männer befiel, exzentrische Junggesellen hätte Tennessee Williams gesagt, und die starben brutal. Alterten im Zeitraffer und für eine zeitlang schien es keinen Ausweg zu geben außer dem Verzicht auf jede körperliche Nähe. Einige erinnern sich, dass es damals sogar einen Papst gab, der die Seuche als Strafe Gottes bezeichnete. Kurzum: Ibsens Drama um die Sünden der Väter und tödliche Familenmuster, „Gespenster“ von 1881, ging und geht mich persönlich an. Mal sehen, wie wir heute Hauptmann Alvings Asyl abfackeln werden… Premiere am 26. Februar 2022 im Stadttheater Wilhelmshaven. Raum, Kostüm und Video: Frank Albert. Dramaturgie: Kerstin M. Car. Musikalische Impulse: Tom Lane.

1 Kommentar zu “Making-of Gespenster

  1. […] Mehr zum Probenprozess auch im Making-of. […]

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